Besuch bei den MOMO‘s

MOMO-The voice of disconnected youth ist eine Organisation von Jugendlichen für Jugendliche.

Für Freitag, den 08. November 2019, war ich zur 5. Bundeskonferenz der Straßenkinder eingeladen. Als Mitglied des Jugendhilfeausschusses im Stadtrat Leipzig war es für mich selbstverständlich diese Einladung anzunehmen, obwohl ich die Veranstaltung bereits am Mittag wegen anderer Termine verlassen musste.

Einleitend sei gesagt, dass mir das Thema Straßenkinder seit langem bekannt ist. Wie viele andere auch habe ich es aber wahrscheinlich zu einseitig gesehen und unterschätzt. Einseitig, weil von vielen Menschen diese Kids als ein Problem der Großstädte und in diesen als eines der unterprivilegierten Schichten gesehen werden. Die Unterschätzungen liegen zum Einen in der Anzahl der Straßenkinder, sie fliegen so zu sagen unter dem Radar, und zum Zweiten darin, dass man dazu neigt Patentrezepte für die „Beseitigung“ (auch wenn man den Terminus „Bekämpfung“ wählt wird es nicht besser) dieses Problems zu suchen.

Sorry Christian, dass ich mich nach unserem Gespräch in der Pause nicht zu Wort gemeldet habe. Ich war dort um zu lernen, nicht um weise Sprüche von mir zu geben. Ich habe lieber zugehört und in den Pausen persönliche Gespräche geführt.

Christian hatte mich aufgefordert einen Gedanken öffentlich zu äußern der mich schon lange umtreibt. Der Gedanke ist folgender:

Wir sind in der Jugendhilfe teilweise bei A.S. Makarenko und seinen беспризорный * (besprizornyy) stehen geblieben. Bei dem Ansatz aus den obdachlosen Kindern und Jugendlichen „wertvolle Mitglieder“ unserer Gesellschaft zu machen. Mitglieder der Gesellschaft die sie ausgestoßen hat und ablehnt. Wir müssen sie also zuallerest akzeptieren, so wie sie sind.“

Mir drängt sich da geradezu zwanghaft eine Analogie auf, die ich in Bezug auf geflüchtete Menschen formulierte. Ich beschrieb das so:

Sie sitzen vor dem Schaufenster, können sogar durch unsere Welt gehen – aber bitte nur als Zuschauer, nicht als Teilnehmer. Nach Jahren dieses Zustandes fordern wir dann eventuell gnädigerweise „Jetzt müsst Ihr teilnehmen! Aber dalli!“ Wie soll das funktionieren?

Genug davon, was habe ich gelernt?

Es gibt viele Herausforderungen die wir angehen müssen, die nachfolgenden sind nur ein Auszug aus dem was ich mitgenommen habe.

  • Aus den Gesprächen und Wortbeiträgen sehe ich, dass der Erfahrungshorizont der dort beteiligten Kids weit über dem gleichaltriger Kinder und Jugendlicher liegt. Wir müssen uns angewöhnen sie so zu behandeln. Ein Beispiel wurde genannt: Ein 13jähriger der seit Jahren seine kleinen Geschwister und sogar seine Eltern versorgt hat, kann auch selbständig leben. Das muss man nicht gut und richtig finden – aber man muss ihn entsprechend seiner Lebenserfahrungen behandeln.
  • Es ist schlicht und ergreifend falsch, wenn die Altersgrenze von 18 Jahren das Ende von HZE (Hilfe zur Erziehung) bedeutet und somit der Anspruch z.B. auf das Leben in einer Wohngruppe endet, ohne adäquaten eigenen Wohnraum bereit zu stellen.
  • Die Bürokratiehürden für die Beantragung und Gewährung der zustehenden Hilfen müssen gesenkt werden. Einfachere Sprache in den Formularen ist dafür erforderlich und vor allem muss die Verantwortung der Bearbeiter in den Ämtern eingefordert werden. Es kann nicht sein, dass Hilfe zum Überleben an einem fehlerhaft ausgefülltem Formular scheitert. Das gilt nicht nur für Straßenkinder sondern für viele Menschen die staatliche Hilfen in Anspruch nehmen müssen.
  • Niedrigschwelliger Zugang zu anderen Hilfsangeboten ist erforderlich. Hilfe zum Überleben darf nicht von so genannter „Kooperationswilligkeit“ abhängig gemacht werden. Dazu gehört auch die Erreichbarkeit der Hilfsangebote mit dem ÖPNV, auch wenn man kein Geld hat. Freie Nutzung des ÖPNV für Kinder und Jugendliche, besonders die damit einhergehende Entkriminalisierung des Schwarzfahrens, gehören dazu.

Es gibt viele weitere und vielleicht auch wichtigere Erkenntnisse die ich bei den MOMO‘s gewonnen habe und die mich in meiner weiteren Arbeit beeinflussen werden, aber ich will ja hier kein Buch schreiben.

Die wichtigste Erkenntnis in einem Satz:

Hört den Straßenkindern zu und handelt!

Am Ende noch einmal Danke an MOMO und Karuna für die Einladung und die Gespräche. Ich hoffe wir bleiben in Verbindung.

* беспризорный – in der Bedeutung von: obdachlose, verwahrloste, aufsichtslose Kinder und Jugendliche – so nennt Makarenko seine Zöglinge

Stadtrat – lernen, lernen und nochmals lernen

Nicht ganz ernst gemeintes Symbolbid

Neu im Stadtrat Leipzig, als einzelner Pirat und in einer Fraktion mit 3 FDP-StadträtInnen (zwei davon ebenfalls neu), da heißt es erst einmal nach Wilhelm Busch:

Also lautet ein Beschluß:
Daß der Mensch was lernen muß.

Stadtrat – Ausschüsse und so

Wir, die Freibeuter, sind mit 4 StadträtInnen die kleinste Fraktion im Stadtrat Leipzig – somit verteilt sich die Arbeit auch auf wenige Schultern.

Ich konnte (musste) also die nachfolgend aufgeführten Themen besetzten, besser gesagt kapern:

  1. FA Jugend und Schule
  2. Investorenvorhaben Schulhausbau
  3. FA Soziales und Gesundheit
  4. Jugendhilfeausschuss
  5. FA Stadtentwicklung- und Bau
  6. FA Umwelt- und Ordnung
  7. BA Stadtreinigung
  8. zeitweilig beratender Ausschuss Wohnen

Die Reihenfolge hat hier naturgemäß nichts mit der Wertigkeit zu tun, irgendeine musste ich ja wählen. Alles ist wichtig und alle dieser Funktionen sind irgendwie verknüpft, das heißt: Vorlagen werden oft in mehreren Ausschüssen, unter verschiedenen Gesichtspunkten, behandelt. Manchmal fällt es noch schwer den Überblick nicht zu verlieren, wenn die gleiche Vorlage plötzlich wieder auftaucht. Da hilft nur Organisation und eben Lernen.

Stadtrat – das Lernen beginnt

Es ist ja nicht so, dass ich nicht verstehen würde worum es in den Anträgen und Vorlagen geht. In den Ausschüssen sitze ich aber mit anderen StadträtInnen (erfahrenen und unerfahrenen) und mit MitarbeiterInnen der Stadtverwaltung zusammen. Letztere beherrschen ihr Fachgebiet, einschließlich der zugehörigen Terminologie geradezu im Schlaf – ich nicht. Wenn ich also im FA Stadtentwicklung- und Bau nicht weiß was die Widmung oder Umwidmung einer Straße ist, dann kann ich nicht mitreden. Das ist nur ein Beispiel. Ich wusste vorher, dass eine Widmung nichts mit einer Namensgebung sondern mit der Zuordnung für Verkehrsarten (Fahrradstraße, öffentliche Straße, Fußgängerstraße und anderen) zu tun hat.

Stadtrat – Selbstorganisation

Die andere Sache ist das Lernen und die Organisation. Nicht verwirren lassen ist hier die Devise. Wenn ich also am Montag Jugendhilfeausschuss und am Dienstag FA Stadtentwicklung- und Bau habe, dann habe ich an dem ersten Tag § 34 SGB VIII (Heimerziehung, sonstige betreute Wohnform) und am zweiten §34 BauGB (Zulässigkeit von Vorhaben innerhalb der im Zusammenhang bebauten Ortsteile). Sachlich kann man da nichts durcheinander bringen, versteht sich, aber nicht nur dort kommt man ins Stottern. Ich überlege dann eben noch ob die Nummer des Paragraphen stimmt. Also Spickzettel (digital) anlegen – dann läuft es.

Stadtrat – lernen was geht wie

Hier fasse ich mich kurz, es ist eben nicht wie im Betriebs- bzw Gesamtbetriebsrat. Dort konnte ich einfach in der Sitzung das Wort ergreifen und etwas formlos einbringen. Im Stadtrat und seinen Gremien und Ausschüssen gibt es Formalien und Zuständigkeiten zu beachten. Also wie schreibe ich den Antrag richtig usw. Es ist gut, dass die Mitarbeiterinnen der Fraktionsgeschäftsstelle, Stephanie und Krstin, ihren Job beherrschen und mich großartig unterstützen. An der Stelle: Danke an euch! Irgendwann werde ich das schon gelernt haben.

Fazit

Die Arbeit als Stadtrat ist fordernd – ich brauche viel Zeit für die Sitzungen und Präsenztermine, der Rest der Freizeit geht zur Zeit für das Lernen drauf. Diese Woche war ein gutes Beispiel:

Montag: 07.00 – 13.30 Uhr Erwerbstätigkeit; 14:00 – 16.00 Uhr Runder Tisch Kinderbetreuung (zu spät gekommen); 16.30 – 18.30 Uhr Jugendhilfeausschuss; 19.00 – 22.45 Uhr Fraktionssitzung. Natürlich ging ich am Dienstag um 07.00 Uhr wieder arbeiten und danach bis 20.30 Uhr FA Stadtentwicklung- und Bau. Am Mittwoch ein freier Tag auf Arbeit, für den Stadtrat Teilnahme am Festakt zum 30. Jahrestag der friedlichen Revolution und danach einige Dinge für die nächsten Sitzungen vorbereiten.

Impression „Dialog der Generationen“ Fesstakt „30 Jahre Friedliche Revolution“

Ich beschwere mich nicht – ich habe es ja gewollt. Mein Arbeitgeber ist zwar nicht begeistert aber ich bekomme die Unterstützung bei der Schichtplanung. Auch dafür Danke.

Leider werde ich hier in den nächsten Wochen nur sporadisch schreiben, auf jeden Fall kommen wichtige Themen zeitnah ins Blog. Dafür bitte ich um Verständnis – es wird besser werden.

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