Die Würde des Menschen – Housing first

Am gestrigen Tage, bei der Fortsetzung der Ratsversammlung vom 21.04.2021, stand im Stadtrat Leipzig die Vorlage VII-DS-01659 – „Modellprojekt „Eigene Wohnung“ zur Erprobung des Housing-First-Ansatzes in Leipzig“ zur Abstimmung.
Durch die Übernahme des Änderungsantrages der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, VII-DS-01659-ÄA-01, durch die Verwaltung entzündete sich die Diskussion bereits im Voraus erneut.

Worum ging es?

Im Originaltext gab es eine Passage folgenden Inhaltes:

Das Projekt richtet sich an Personen, die: …
einer sozialen Betreuung zustimmen, welche einen wöchentlichen Hausbesuch in der Wohnung der Teilnehmenden anzielt,

Die Antragssteller wollten, dass dieser Punkt gestrichen wird und dafür folgende Formulierung aufgenommen wird:

Teilnehmer/-innen müssen nicht einer sozialen Betreuung zustimmen, sondern bekommen einen wöchentlichen Hausbesuch in der Wohnung angeboten.

Warum der Streit?

Die CDU war der Meinung, dass eine verpflichtende soziale Betreuung zum Gelingen des Projektes erforderlich ist. Nicht ganz so klar ausgedrückt wurde, dass wohnungslose Menschen nicht in der Lage sind selbständig den Rettungsanker (verzeiht mir die nautische Metapher) zu ergreifen und angebotene Hilfen anzunehmen.
Klartext: Wohnungslose Menschen sind unmündig und brauchen einen Vormund! Vielleicht ein bisschen stark formuliert, aber meiner Meinung nach trifft es den Kern. Auch in der Fraktion Freibeuter gab es zu dem Änderungsantrag durchaus keine einheitliche Meinung, das Modellprojekt selbst stand aber nie zur Disposition.

Wie ist meine Meinung dazu?

Nachfolgend könnt ihr meinen, zugegeben für mich etwas emotionalen, Redebeitrag lesen. Einige Vorbemerkungen.

So breitet der Souverän, nachdem er jeden Einzelnen der Reihe nach in seine gewaltigen Hände genommen und nach Belieben umgestaltet hat, seine Arme über die Gesellschaft als Ganzes; er bedeckt ihre Oberfläche mit einem Netz kleiner, verwickelter, enger und einheitlicher Regeln…; er bricht den Willen nicht, sondern er schwächt, beugt und leitet ihn; er zwingt selten zum Handeln, steht vielmehr ständig dem Handeln im Wege; er zerstört nicht, er hindert die Entstehung; er tyrannisiert nicht, er belästigt, bedrängt, entkräftet, schwächt, verdummt und bringt jede Nation schließlich dahin, daß sie nur noch eine Herde furchtsamer und geschäftiger Tiere ist, deren Hirte die Regierung.

Ich stimme Alexis de Tocqueville (1805-1859) nicht vollumfänglich zu, aber in diesem Zitat aus „Über die Demokratie in Amerika“ steckt auch für diesen Fall etwas an Wahrheit. Warum habe ich da etwas markiert?
Oft, ich denke hier besonders an die Hartz IV Regularien, wird den BürgerInnen die Entscheidungsfreiheit genommen, sie werden geradezu entmündigt und, wenn auch nicht explizit so ausgedrückt, unter Amtsvormundschaft gestellt. Die Durchsetzung von Regularien ist dem Erreichen von Ergebnissen übergeordnet. Der Staat entzieht diesen Menschen die Selbstbestimmung und gerade konservative Parteien und Politiker, die immer die Selbstbestimmung und Selbstverantwortung der Menschen plakativ vertreten, stimmen in den Chor der Verfechter einer solchen Politik ein.

Ich habe das, in Kurzform, versucht in meinem nachfolgenden Redebeitrag auszudrücken. Ich freue mich über das positive Votum für die Vorlage und besonders über die Zustimmung meiner Fraktion.

Redebeitrag

„Housing first“ ein Programm für wohnungslose Menschen ist für mich ein wichtiger Schritt in unserer Sozialpolitik.
Wer selbst noch nie vor der Gefahr stand in die Wohnungslosigkeit zu fallen, wer immer ein stabiles Lebensumfeld und Lebensumstände hatte, dem fällt es schwer die Gründe von Wohnungslosigkeit nachzuvollziehen. Falls jetzt jemand sagt, der Köhler quatscht nur, ich stand schon einmal am Rande dieser Situation.
Jobverlust, Trennung oder Scheidung, Abrutschen in den Alkoholismus oder Drogenkonsum sind nur einige Gründe. Zur Wahrheit gehört auch, dass sich wohnungslose Menschen oft um Hilfen bemüht haben, aber an der Bürokratie gescheitert sind – oder sich von den Akteuren der Ämter im Stich gelassen fühlen.
Das ist kein Vorwurf gegen unsere Ämter, die meisten MitarbeiterInnen machen einen guten Job, sind aber an Vorgaben gebunden.
So war für mich persönlich der, jetzt ersetzte Satz:
„Personen die: einer sozialen Betreuung zustimmen, welche einen wöchentlichen Hausbesuch in der Wohnung der Teilnehmenden anzielt,“
aus mehreren Gründen nur schwer tragbar.
1. impliziert er, die Unmündigkeit wohnungsloser Menschen, die sich mit ihrer Teilnahme an diesem Programm entschlossen haben diesem Zustand zu entkommen
2. der Satz beschreibt eine soziale Betreuung nur mit dem Ziel eines wöchentlichen Hausbesuchs. Das könnte man, was ich aber nicht mache, mit einer Anwesenheitskontrolle verwechseln.
Aus meinen beruflichen Erfahrungen, nicht mit wohnungslosen Menschen sondern bei der Eingliederung von Langzeitarbeitslosen und ehemaligen Drogenabhängigen, kann ich nur bestätigen, dass sich Menschen in einer Notlage – die sich entschlossen haben diese zu beenden – jedes Hilfsangebot annehmen.
Weil sie entschlossen sind! Das müsste gerade die Mitglieder der konservativen Parteien freuen.
Sehen wir die wohnungslosen Menschen als mündige MitbürgerInnen in einer Notsituation.
Ich persönlich stimme der Vorlage in der geänderten Form zu, empfehle diese Zustimmung auch meiner Fraktion und bitte Sie um ein positives Votum.

Bild von MargGe auf Pixabay (bearbeitet)